Tag 1
Ich führe dieses Tagebuch, weil es eine Reise ins Ungewisse ist, auf der wir uns befinden.
Ich wickle es nach jedem Schreiben sorgsam in Ölpapier, in der Hoffnung, sollte das Meer uns verschlingen,
der Skorbut uns den Verstand rauben, oder eines der gefürchteten Seeungeheuer unser Schiff zerschlagen, doch dieses Tagebuch erhalten bleiben, und vielleicht - dereinst - den Weg zurück zu meiner Familie finden mag.
Mein Name ist Johann Frederik Hansen, von den Hansens aus dem Bremischen. Genannt werde ich Kordan, seit ich das Russen Land bereiste - aber das ist eine andere Geschichte.
Den Finder dieses Tagebuchs möchte ich bitten, es in die Pfarrei St. Stephani in Bremen zu bringen. Der dortige Pfarrherr wird es meiner Familie weiterleiten. Mein Dank dafür - auch wenn ich hoffe, dass dies niemals nötig sein wird.
Mein lieber Lindhövel, solltest auch Du diese Zeilen zu lesen bekommen, so lass Dir gesagt sein, dass mich unsere gemeinsame Zeit bei den Bremischen Schützen geprägt hat, und so manches, was wir dort gelernt haben, mir schon im Russen Land dienlich war. Ich bedaure, dass wir es nicht geschafft haben, uns nach meiner Rückkehr wieder einmal zu treffen, und die neuen Rekruten im Soldatenkeller abzufüllen. Ich trage unsere Bilder von damals auch auf dieser Reise bei mir, auch wenn ich finde, dass Dir schon damals die Uniform besser stand als mir. Ich bin mir sicher, dass Dir eine großartige Karriere bei den Schützen bevorsteht. Wahrscheinlich bist Du - wenn wir uns das nächste Mal sehen - bereits ein Lieutenant und führst Deinen eigenen Trupp. Du sollst wissen, dass ich in den weiten Wäldern Sibirias viel Zeit zum Nachdenken gehabt habe, und ich keinen Groll gegen Dich hege. Ich glaube, dass es die Charlotte - unser Lottchen - bei Dir gut hat, und mehr mit Dir anfangen kann, als mit einem Herumtreiber wie mir. Und kein Weib kann eine echte Freundschaft unter Männern entzweien. Ich wünsche Euch alles Glück der Erde - und viele Kinder.
Und pass ein wenig auf meinen Bruder auf. Ich weiß, dass er doch allzu oft sich selbst in Schwierigkeiten bringt.
Meine lieben Eltern, wenn Euch der Pfarrherr dieses Büchlein bringt, dann habt Ihr die Gewissheit, dass ich nicht mehr bin. Nehmt Abschied, trauert und lasst los.Ich habe viel gesehen auf der Welt. Ich sah mich selbst dem Tode manchmal nahe. Und ich sah noch weit schlimmeres, als ich auf meiner Rückkehr durch vom Krieg verheerte Lande kam.
Gebe Gott, dass dieser Krieg zu Ende ist, bevor die Heere auch vor Bremen stehen. In Gottes Namen wird das Werk des Teufels vollbracht. Kein noch so wildes Tier im rauhen Sibiria ist zu solchen Grausamkeiten fähig, wie der Mensch.Kommt man durch das verheerte Land - ich mochte es Euch nicht erzählen - so wähnt man sich am schlimmsten Ort der Hölle. Noch jetzt bringe ich es nicht fertig, Euch zu schildern, was sich mir und meinen Reisegefährten für ein Anblick bot. Dem Kurtl von den Schmieds, ihr wisst, dieser Hühne von an die zwei Schritt Größe, hat es den Verstand geraubt und er nahm sich selbst das Leben. Ich sah ihn mit einem Bären ringen, kein Schneetiger machte ihm Angst, aber nachdem wir ein kleines Örtchen durchquerten, in dem nicht eine Menschenseele noch am Leben war, nicht Frau noch Mann, kein Kind, kein Tier, da weinte er nur noch wie ein kleines Kind, konnte nicht mehr damit aufhören. Möge Gott seiner Seele gnädig sein und ihm das Fegefeuer ersparen.
Ich möchte an das Schöne denken, an Mutters Apfelkuchen, an den Duft des Hansen-Kontors. Für mich ist die Schreibstube, das Kaufmanns-Handwerk, alleine das betuhliche Leben in unserem schönen Bremen, nicht das Richtige. Das war es vorher nicht - und das ist es nun erst recht nicht mehr. Nur einen Monat habe ich es ausgehalten. Nun ging es nicht mehr.
Meine Gedanken sind jedoch immer bei Euch.
Man sagt, die Schweden liebäugeln mit Bremen. Sie handeln bereits den Besitz für ihre Unterstützung im Kriege aus. Ich hoffe, es gibt kein böses Blut. Ich weiß, dass eine brave Bremer Seele keinen schwedischen Lehnsherrn akzeptieren wird.
Vielleicht habe ich deshalb so Hals über Kopf auf diesem Schiff angeheuert. Ein Werber war im Seehund, er lud alle auf ein Bier oder zwei ein. Er erzählte von der Neuen Welt auf der anderen Seite des Meeres. Von endlosem Land, quasi unbewohnt und ohne rechtmäßige Besitzer. Von Gold in den Flüssen, dass man nur einzusammeln braucht. Von exotischen, menschengleichen Männern und Frauen, die begierig sind nach dem Wort Gottes und der Zivilisation. Einem jeden, der anheuere, steht es am Ende der Reise frei, ob er an Bord bliebe, oder ob er sich ein Stückchen Land nehme, um dort sein Glück zu machen.Seine Worte weckten das Reisefieber in mir, die Lust am Abenteuer, die Freude an der Entdeckung. Noch vor all den Anderen habe ich meine Unterschrift auf die Heuerliste gesetzt. Ich reise nur mit leichtem Gepäck, nur wenig Altes hat für mich einen Wert. Ich versuche das Schöne in meinen Gedanken mitzunehmen, und das Hässliche aus meinen Erinnerungen zurück zu lassen.
So lebe wohl, Du alte wundervolle Welt, und sei willkommen unbekannte Neue Welt!